Seit Beginn der Pandemie hieß es, sobald die Herdenimmunität erreicht sei, könnten wir zur Normalität zurückkehren. In den letzten Wochen und Monaten haben jedoch viele Wissenschaftler*innen von diesem Szenario Abstand genommen.
Doch zuerst: Was ist eigentlich Herdenimmunität?
Herdenimmunität bedeutet, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe vor einer ansteckenden Krankheit geschützt ist, weil ein großer Teil dieser Gruppe dagegen immun ist. Der Erreger findet so niemanden mehr, den*die er infizieren kann und kann sich so nicht mehr verbreiten. Dadurch sind auch diejenigen geschützt, die selbst nicht immun sind. Geschehen ist das beispielweise bei Polio oder bei Masern. Sie lässt sich auch leicht berechnen: Herdenimmunität = 1- 1/R-Wert. Der R-Wert zeigt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. Ist bspw. R = 3,3, liegt die Schwelle der Herdenimmunität bei 70%. Wichtig ist dabei auch die sogenannte Impfeffizienz: Sie beschreibt, wie wahrscheinlich Geimpfte andere Menschen nicht mehr anstecken können. Bei den mRNA-Impfstoffen liegt die Impfeffizienz ersten Studien zufolge zwischen 67% und 94%.
Allgemein lässt sich sagen: Ist der Wert der Impfeffizienz niedriger als der Wert der Herdenimmunität, ist eine Herdenimmunität unmöglich.
Es gibt aber weitere Gründe, warum eine Herdenimmunität unwahrscheinlich ist.
- Nicht alle Menschen können geimpft werden und nicht alle Menschen wollen sich impfen lassen. Ersteres gilt aktuell hinsichtlich von CCOVID-19 insbesondere für Kinder und Jugendliche.
- Bislang gibt es nur bei den mRNA-Impfstoffen Daten zur Impfeffizienz. Und auch bei ihnen sind Studien noch nicht abgeschlossen, auch wenn die Daten ermutigend seien. Zu Vektorimpfstoffen liegen noch keine aussagekräftigen Daten vor.
- Der Impfstoff ist ungleich verteilt – sowohl global als auch innerhalb der Länder. Während sich reiche Industriestaaten mit ausreichend Impfstoff eingedeckt haben, sieht es für wirtschaftlich schwächere Länder des globalen Südens düster aus. Auch innerhalb der Gesellschaften ist die Verteilung ungleich. Da vor allem ältere und Risikopatient*innen zuerst geimpft werden, sind jüngere länger ohne Schutz, können sich infizieren, das Virus verbreiten und so werden Mutationen begünstigt.
- Neue Mutationen gefährden die Immunität, wie beispielsweise im brasilianischen Manaus zu beobachten war. Dort gingen Wissenschaftler*innen von einer (im Nachhinein überbewerteten) Herdenimmunität von 60% aus. Dort entwickelte sich die Mutation P.1, die wiederum viele Menschen in Manaus infizierte und deren Immunität umging. Je länger das Virus zirkuliert, desto mehr Mutationen entstehen. Und: Je mehr Menschen geimpft sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus mutiert, um sich verbreiten zu können. Dieses Szenario kann nur verhindert werden, wenn viele Menschen schnell geimpft werden.
- Die Immunität hält nicht ewig an. Bisher ist noch unklar, wie lange die Immunität nach einer Infektion oder einer Impfung anhält. Bei anderen Coronaviren hält diese im Schnitt sechs Monate. Regelmäßige Auffrischungen werden also notwendig sein.
- Geimpfte verhalten sind anders! Wer geimpft ist, fühlt sich sicher. Doch das ist eine trügerische Sicherheit. Die Impfungen bieten keinen hundertprozentigen Schutz, eine Infektion ist weiterhin möglich. Diese dann leichteren bis symptomlosen Infektionen können gepaart mit mehr und engeren Kontakten eine gefährliche Mischung ergeben.
Wenn die Herdenimmunität nicht kommt, stellt sich natürlich die Frage, wie es weitergeht. Sicher ist, dass wir das Virus so schnell nicht loswerden, seine Gefährlichkeit können wir aber senken. Auf dem Weg zu einer Post-Corona-Normalität warten noch viele Hürden. Zuerst werden sich vor allem junge und ungeimpfte Menschen infizieren. Bei den meisten von ihnen ist ein milder Verlauf wahrscheinlich. Für Krankenhäuser und die Arbeitswelt ist das dennoch ein Problem. Statt vergleichsweise wenigen akuten Fällen werden mehr leichte Fälle in den Kliniken behandelt werden müssen. Auch die bereits angesprochenen Mutationen werden die Menschheit noch eine Weile begleiten. Dabei spielen vor allem sogenannte Escape-Mutationen eine wichtige Rolle: Diese Mutationen können den Immunschutz teilweise umgehen. Sind viele, aber noch nicht genügend Menschen geimpft, sind diese Mutationen wahrscheinlicher. Hier sind nachträgliche angepasste Booster-Impfungen eine Lösung. Am Ende wird das Virus wohl endemisch werden. Das heißt: Es reiht sich in die Reihe der bereits bekannten saisonalen Erreger ein, es wird immer wieder zu lokalen Ausbrüchen kommen und es werden weiterhin Menschen an Corona sterben – jedoch deutlich weniger als aktuell. Bis es jedoch soweit ist, kann es noch Jahre oder ein ganzes Jahrzehnt dauern. Sind die bekannten Risikogruppen durch regelmäßige Impfungen geschützt, könnte sich das Virus auf lange Sicht zu einem vergleichsweise harmlosen saisonalen Infektionserreger entwickeln, wie etwa Erkältungen oder die Grippe.
Quellen: www.quarks.de | www.pharmazeutische-zeitung.de | www.spektrum.de | www.gesundheit.de